Unserdeutsch und sein Verhältnis zum deutschen Kolonialismus
by Asher Sandbach
Die Anzahl der Gebiete, die während der Kolonialzeit unter deutscher Herrschaft waren, ist heute unter Deutschen nicht weit bekannt – z.B. wissen viele nicht, dass Deutschland jemals Kolonien in Ozeanien besaß. Für vier Jahrzehnte um die Wende des 20. Jahrhunderts herrschte das Deutsche Kaisserreich über einen Teil vom heutigen Papua-Neuguinea. Außer anthropologischen Forschern und militärischen Kolonialisten gab es Missionare, die die Ureinwohner zur lutherischen bzw. katholischen Kirche zu bekehren versuchten. Die papuanischen Kinder, die in den deutschsprachigen Missionsschulen unterrichtet wurden, sowie ihre Kinder, entwickelten eine auf dem Deutschen basierende Kreolsprache, die einzige ihrer Art weltweit, die ‚Unserdeutsch‘ heißt. In diesem Aufsatz werden die Geschichte und Struktur von Unserdeutsch besprochen, sowie seine Funktion in der deutschen Kolonialgeschichte.
Vor dem Frieden von Versailles war das Gebiet, das heute zu Papua-Neuguinea gehört, zwischen den Kolonialmächten Großbritannien, Deutschland und den Niederländern aufgeteilt. Der nordöstliche Teil hieß Deutsch-Neuguinea – die Ortsnamen in diesem Teil von Papua-Neuguinea zeigen den deutschen Einfluss, z.B. der Bismarck-Archipel und die Stadt Finschhafen (Letztere ist nach kolonialistischem Forschungsreisender Otto Finsch benannt). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ermunterten mehrere deutsche Missionsgesellschaften ihre Mitglieder dazu, in Deutsch-Neuguinea zu arbeiten (Osmers 1981). Am Anfang ihrer Missionen hatten ein paar Gesellschaften vor, insbesondere die evangelische Rheinische Missionsgesellschaft, die Papuaner*innen in ihrer Heimatsprache zu unterrichten. Dieser Ansatz erwies sich aber als sehr schwierig. Papua-Neuguinea ist mit etwa 200 melanesischen Sprachen und mehr als 500 papuanischen Sprachen das sprachlich diverseste Land der Welt – zur Zeit von Deutsch-Neuguinea gab es wegen des bergigen Geländes und der Isolierung der Dörfer keine allgemeine einheimische Verkehrssprache (ebd., 84). Nach der Feststellung, dass es unmöglich gewesen wäre, eine zweckmäßige papuanische Unterrichtssprache zu finden, entschieden 1899 die Missionsgesellschaften und die deutsche Regierung, Deutsch als Unterrichtssprache zu verwenden (Keck 2008, 72–3).
Die Kinder, die in den deutschen Missionsschulen wohnten und unterrichtet wurden, waren von der Außenwelt deutlich isoliert (Maitz und Volker 2017, 376). Von ihren Familien und Heimatssprachen getrennt, fühlten sie sich weder wie Einheimische noch wie ‚echte‘ Deutsche. Maitz und Volker schlagen vor, dass die erste Form von Unserdeutsch in dieser Situation als eine Art Entspannung diente – nach einem ganzen Tag im Klassenzimmer, wo sie Standarddeutsch sprechen mussten, konnten die Kinder eine vereinfachte Sprache verwenden, um Geschichten zu erzählen und Wortspiele zu machen. Unserdeutsch wurde nicht nur unter Schüler*innen verwendet – wegen ihrer Isolierung von der allgemeinen Gesellschaft heirateten die Schüler*innen größtenteils innerhalb der Gruppe und gebrauchten die Sprache zu Hause. Für ihre Kinder war Unserdeutsch eine Muttersprache. Die heutigen Sprecher von Unserdeutsch sind die dritte oder vierte Generation, die die Sprache beherrschen, aber sie war nie die einzige Sprache, die sie gebrauchten – die Verbreitung von Unserdeutsch war niemals so weit wie Englisch oder Tok Pisin, das auf dem Englischen basierende Gegenstück zu Unserdeutsch. Obwohl Unserdeutsch in den Schulen gesprochen wurde, hatte es keinen guten Ruf. Den Missionaren und teilweise auch den Sprecher*innen selbst schien die Sprache eine verdorbene Form des Deutschen zu sein, die nicht geschrieben oder studiert werden sollte.
Um die Entwicklung und Struktur von Unserdeutsch zu verstehen, muss man etwas über Kreolsprachen im Allgemeinen wissen. Jede Kreolsprache entsteht aus einem Pidgin (Matthews 2014). Ein Pidgin ist keine Sprache an sich, sondern ein Kommunikationssystem zwischen Menschen, die keine gemeinsame Sprache haben (Crystal 2010, 344). Die meisten Pidgins entstehen, um Handel zu ermöglichen, und zum größten Teil werden sie nur gebraucht, solange sie ihren Zweck erfüllen. Unserdeutsch entstand aus der Mischung von Kindern aus verschiedenen Dörfern und Stämmen in den Missionsschulen, aber es verschwand nicht, als die Kinder die Schule verließen.
Ein Pidgin wird erst zu einer Kreolsprache, wenn es von Kindern erworben wird. Nachdem ein Pidgin von dem Spracherwerbsmechanismus des Kindes ausgebaut wird, ist die sich ergebende Kreolsprache eine vollständige Sprache (Crystal 2010, 346). Das Pidgin hat keine feststehenden Regeln, aber die folgende Kreolsprache verfügt über ein völlig ausgebautes syntaktisches System. Laut McWhorter (2018, 22) gibt es Besonderheiten, die alle Kreolsprachen gemeinsam haben: Unabhängig davon, wie kompliziert die Flexionssysteme der sogenannten ‚Basissprachen‘ sind, hat die resultierende Kreolsprache eine sehr einfache Morphologie. Der Satz (1) zeigt ein Beispiel von diesem Phänomen aus Unserdeutsch – statt des ganzen Verbendungssystems, das im Standarddeutschen zu finden ist, verfügt Unserdeutsch über das Morphem –en, das einfach zeigt, dass das Wort ein Verb ist.
(1) | Du | lauf-en | geht | wo? |
2sg | laufen-verb | gehen | wo | |
‚Wohin läufst du?‘ |
(Maitz und Volker 2017, 377)
Unserdeutsch hat auch kein Genus- oder Kasussystem und Information über Tempus und Aspekt wird nur mittels Adverbien gezeigt, wie die Beispiele (2) und (3) zeigen.
(2) | wir | anfang | wein-en | |||||||||||||
1pl | anfangen | weinen-verb | ||||||||||||||
‚Wir fingen an zu weinen‘ | ||||||||||||||||
(3) | das | ni | genuch | fi | fill-en | auf | mein | Bauch | ||||||||
das | nicht | genug | für | füllen-verb | auf | mein | Bauch | |||||||||
‚Das hat nicht genügt, mir den Bauch zu füllen‘ | ||||||||||||||||
(ebd., 370, 377)
Wegen seiner scheinbaren Einfachheit im Vergleich zum Standarddeutschen sowie seiner Verbindung mit den Ureinwohnern von Papua-Neuguinea wurde Unserdeutsch während der Kolonialzeit verachtet (Osmers 1981). Dies stimmt mit den allgemeinen Einstellungen zu den Papuaner*innen zur Zeit von Deutsch-Neuguinea überein – obwohl es im Verhältnis wenig Gewalt zwischen den Kolonialisten und den Ureinwohnern gab, verglichen mit dem ehemaligen Deutsch-Südwestafrika, wurden die Ureinwohner geringgeschätzt (Keck 2008). Solche Einstellungen sind nirgendwo offensichtlicher als in Berichten von den Kolonialisten, die für ein deutsches Publikum schrieben. Ausdrücke wie „unsere lieben Neuguinea-Brüder“ verbergen die Tatsache, dass sich die Deutschen für ‚zivilisierter‘ als die Papuaner*innen erachteten – laut Zöller (2010, 228–30) stünden die Ureinwohner „auf niederer Kulturstufe“. Die Kolonialisten sahen die Ureinwohner im besten Fall als Menschen, die zivilisiert werden mussten; dennoch wurden die Papuaner*innen sogar oft mit Tieren gleichgesetzt (Keck 2008, 64). Zöller (2010, 231) behauptet, dass „[i]m Anfang … der Fremdling zwischen Papua und Papua ebensowenig wie zwischen Schafen von leicht verschiedener Rasse zu unterscheiden vermögen [wird]“. Die deutschen Forscher respektierten die Privatsphäre und die Würde in vielen Fällen nicht – Pöch (1907, 398) nimmt Szenen aus dem Dorfleben auf, „ohne dass die Leute es wussten, dass sie photographiert wurden“. In einer Begebenheit von besonderer Entsetzlichkeit beschreibt er „die Gelegenheit, … Skelette justifizierter Baining-Leute, die … zum Tode verurteilt worden waren, auszugraben“ – die Gelegenheit, von den Beinen und Schädeln der Ureinwohner Maß zu nehmen, ist ihm wichtiger als die Menschenwürde (ebd., 385).
Die Ansichten von Deutschen während der Kolonialzeit gegenüber Unserdeutsch und anderen Kreolsprachen waren von den Einstellungen zur einheimischen Kultur im Allgemeinen beeinflusst. Sie sind ein Grund dafür, dass Unserdeutsch heute dem Tode geweiht ist – es gibt rund 100 alte Menschen, die die Sprache noch beherrschen (Maitz, König und Volker 2016). Einstellungen zu Unserdeutsch haben sich also massiv verändert – Forscher wie Péter Maitz und Craig Alan Volker haben sich in den letzten Jahren darum gerissen, die Sprache ausführlich zu dokumentieren. In der modernen Linguistik werden Pidgins und Kreolsprachen nicht verachtet, sondern als wichtige Studiengegenstände gesehen. Dennoch ist es fragwürdig, ob sich in diesem Verhältnis von den Erforschten und Forschenden nicht auch weiterhin problematische Einstellungen offenbaren.
Keck (2008, 76) behauptet beispielsweise, dass deutsche Einstellungen zu Papua-Neuguinea durchaus weiterhin problematisch sind. Im Jahre 2005 erschien ein Memoir über eine Kindheit in Papua-Neuguinea namens ‚Dschungelkind: vom Mädchen, das aus der Steinzeit kam‘ und ein Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung, der ‚Im Urwald von West-Papua: Ferien bei Kannibalen’ heißt. Ein neuerer Bericht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über einen deutschen Geschäftsmann, der seit Jahrzehnten in Papua-Neuguinea arbeitet, gibt einen Aspekt der immer noch kolonialistischen deutschen Denkweise preis (Hein 2017). Der Reporter des Artikels stimmt stillschweigend mit dem Geschäftsmann überein, dass die Papuaner*innen „recht faul“ sind, weil sie aufhörten, Chilis zu sammeln, „wenn sie genug für den Tag verdient hatten“. Der Widerwille dieser papuanischen Arbeiter, mehr als notwendig bei einer kapitalistischen, neokolonialistischen Unternehmung mitzumachen impliziert aus der Perspektive des deutschen Reporters, dass Papuaner*innen im Allgemeinen faul seien. Solche Beispiele beweisen, dass das koloniale Bild der angeblich unzivilisierten und barbarischen Menschen aus Papua-Neuguinea nach wie vor existiert.
Abschließend lässt sich sagen, dass, obwohl Deutschland seit einem Jahrhundert keine Kolonien besitzt, Kolonialismus und Rassismus immer noch eine große Rolle in den deutschen Einstellungen in Bezug auf Papua-Neuguinea spielen. Während das Interesse an Sprachen wie Unserdeutsch zumindest eine Abnahme der Geringschätzung erhoffen lassen, kann nicht geleugnet werden, dass rassistische Dynamiken bis heute weiterbestehen und vor allem in der Literatur und in journalistischen Texten kolonialistische Bilder wie jenes der angeblichen Unzivilisiertheit der „Anderen“ weiterhin reproduziert werden.
Literatur
Crystal, David. 2010. The Cambridge encyclopedia of language. 3rd ed. Cambridge: Cambridge University Press.
Hein, Christoph. 2017. Deutscher in Papua-Neuguinea: Der alte Mann und die Ananas. Frankfurter Allgemeine Zeitung. https://www.faz.net/-gqe-8xi8r (accessed: 27. September 2020).
Keck, Verena. 2008. Representing New Guineans in German Colonial Literature. Paideuma 54: 59–83. www.jstor.org/stable/40341978.
Maitz, P., W. König and C.A. Volker. 2016. Unserdeutsch (Rabaul Creole German): Dokumentation einer stark gefährdeten Kreolsprache in Papua-Neuguinea. Article. Zeitschrift für Germanistische Linguistik 44, Nr. 1: 93–96. doi:10.1515/zgl-2016-0004, .
Maitz, Péter and Craig Alan Volker. 2017. Documenting Unserdeutsch. Article. Journal of Pidgin and Creole Languages 32, Nr. 2: 365–397. doi:10.1075/jpcl.32.2.06mai, .
Matthews, P. H. 2014. The concise Oxford dictionary of linguistics. 3rd ed. Oxford Reference. Oxford.
McWhorter, John H. 2018. The Creole Debate. Cambridge: Cambridge University Press. doi:DOI: 10.1017/9781108553308, https://www.cambridge.org/core/books/creole-debate/0407DBF77289B6CDDCE03A1FCDFD6BE0.
Osmers, Dieter. 1981. LANGUAGE AND THE LUTHERAN CHURCH ON THE PAPUA NEW GUINEA MAINLAND: AN OVERVIEW AND EVALUATION. Article. Pacific Linguistics. Series A. Occasional Papers 0, Nr. 61: 71.
Pöch, Rudolf. 1907. Reisen in Neu-Guinea in den Jahren 1904—1906. Zeitschrift für Ethnologie 39, Nr. 3: 382–400. www.jstor.org/stable/23030358.
Zöller, Hugo. 2010. Deutsch-Neuguinea und meine Ersteigung des Finisterre-Gebirges: Eine Schilderung des ersten erfolgreichen Vordringens zu den hochgebirgen Inner-Neuguineas, der Natur des Landes, der Sitten der Eingeborenen und des gegenwaïrtigen Standes. Cambridge Library Collection – Linguistics. Cambridge: Cambridge University Press. doi:DOI: 10.1017/CBO9780511694493, https://www.cambridge.org/core/books/deutschneuguinea-und-meine-ersteigung-des-finisterregebirges/AD0BFABC052F8F560AE2AAEB5CD82B24.